PONTIFIKALAMT AM 7. OKTOBER 2003 IN DER MARIENBASILIKA IN KEVELAER (APG 1, 12-14; LK 1, 26-38)

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Predigt:

Schwestern und Brüder im Herrn!

1. In einer jener entzückenden Predigten, die noch heute sein unvergessliches Lächeln durchscheinen lassen, erzählt Albino Luciani - damals war er noch Patriarch von Venedig, nachmals Papst Johannes Paul I. - folgende Episode aus dem Leben des großen Zentrumspolitikers Ludwig Windthorst, des Gegenspielers Bismarcks in der Verteidigung der Freiheit der Kirche: Er wurde eines Tages von einigen - nichtpraktizierenden - Freunden gebeten, ihnen seinen Rosenkranz zu zeigen. Es war ein Scherz: Sie hatten ihn ihm zuvor aus der linken Tasche genommen. Da Windhorst ihn dort nicht finden konnte, griff er in die rechte Tasche und überraschte seine grinsenden Freunde: Dort hatte er einen Ersatzrosenkranz.

Heute kann man wohl die Frage stellen: Wie viele Gläubige - lassen wir die katholischen Politiker einmal beiseite - wie viele Gläubige - ich sage nicht: tragen einen Rosenkranz in ihrer Tasche, sondern - besitzen einen Rosenkranz und beten ihn mit einer gewissen Regelmäßigkeit von Zeit zu Zeit?

2. Der Rosenkranz ist bestimmt ein Gebet, das sich bei dem, der es mit Glauben praktiziert, großer Beliebtheit erfreut. Doch gilt auch - und das ist eine realistische Feststellung -, dass es weniger verbreitet ist als in früheren Zeiten. Deswegen möchte ich einige Worte sagen, die zum Ziel haben, dass diejenigen, die den Rosenkranz lieben, ihn noch mehr lieben, und dass diejenigen, die seine Schönheit und seinen Wohlgeschmack noch nicht verstehen, sie entdecken, damit auch sie die reichen Früchte dieses Gebetes genießen können.

Es gibt ein Wort von Papst Johannes Paul II., das uns das Wesen des Rosenkranzgebetes zeigen kann: Im Rosenkranz nähern wir uns Jesus, schauen wir auf ihn, sprechen wir mit ihm mit dem Herzen und den Augen Marias.

3. Der Rosenkranz ist ein Gebet. Beten bedeutet: sich Gott nahen, auf ihn hören, mit ihm sprechen. Sprechen ist leicht, so will es scheinen, manchmal auch zu leicht; aber mit Gott zu sprechen, ist schwierig, weil wir ihn weder mit unseren Ohren hören noch mit unseren Augen sehen: „Niemand hat Gott je gesehen“ (Joh 1, 18).

Und Jesus: sehen wir ihn? Es kommt darauf an, mit welchen Augen wir ihn sehen. Eine Mutter sieht ihren Sohn, auch wenn er nicht zu Hause ist. Sie sieht ihn mit den Augen des Herzens. Die Augen des Herzens sind oft - man kann es nicht leugnen - zu sehr von der Fantasie geleitet; doch wenn die Augen des Herzens vom Glauben erleuchtet sind, dann können sie sich nicht täuschen, weil der Glaube die Kenntnis ist, die Gott uns von sich gibt.

Maria sah ihren Sohn mit den Augen des Leibes - so wie die anderen: die Freunde und Gegner, wie die Apostel, aber auch die Pharisäer. Sie sah ihn aber auch mit den Augen des Glaubens: aufgrund der Worte des Engels, die wir im heutigen Evangelium gehört haben. Sie sah ihn mit Glauben wegen der Zeichen, die der Engel ihr genannt hatte, und wegen dessen, was in ihrem Schoß gewirkt worden war. Und diese Art, Jesus zu sehen mit den Augen des Glaubens - und des liebenden Glaubens -, war ihr eigen.

Dasselbe können wir auch von uns sagen. Mit den Augen des Leibes können wir Jesus bestimmt nicht sehen. Wichtig aber ist, wie wir ihn aufgrund des an uns gerichteten Wortes Gottes und seiner Wirkung in uns mit den Augen des Glaubens sehen.

4. Der Rosenkranz hilft uns, wie Papst Johannes Paul II. gesagt hat, Christus mit dem Herzen - mit den Augen des Glaubens - Marias zu sehen. Wie geschieht das?

Wenn wir den Rosenkranz beten, findet sich unser Geist wie zwischen zwei Pole der Aufmerksamkeit gestellt: Es ist die Aufmerksamkeit für die Geheimnisse des Lebens Jesu und Marias, die wir betrachten; es ist die Aufmerksamkeit für die Worte, die wir sprechen. Es ist, wie wenn wir eine Wanderung machen und uns mit einem Menschen unterhalten, mit dem wir freundschaftlich verbunden sind: Wir schauen auf die Landschaft, wir genießen den Blick auf die Wälder, die Bäche und die Wiesen und den Himmel; zugleich aber sprechen wir mit dem, der mit uns unterwegs ist. Bald ist die Aufmerksamkeit auf die Landschaft gerichtet oder einen Punkt in ihr, bald mehr auf den Menschen, in dessen Gesellschaft wir sind. So ist es auch beim Rosenkranz. Die verschiedenen Geheimnisse versetzen uns in Szenen des Lebens Jesu: seiner Kindheit, seines Leidens, seiner Herrlichkeit oder seines lichtvollen Wirkens; sie sind gleichsam der Hintergrund des Gebetes, die Umgebung, in der sich unser Geist bewegt, von Liebe erfüllte Erinnerung. Dort bewegen wir uns, wenn wir auf das zurückgehen, was uns die Evangelien berichten, indem wir uns die Rolle vorstellen - so wie wir es können -, die Jesus und Maria gehabt haben. Dabei bleiben wir nicht passiv, wir nehmen teil an ihrem Leben - und sprechen: Wir sprechen mit drei Hauptgebeten, die ganz einfach sind, aber eben in ihrer Wesentlichkeit von unübertrefflichem Reichtum.

Das erste Gebet: Das Vaterunser eröffnet jedes Geheimnis des Rosenkranzes. Es ist das Maß für jedes Gebet, das Gott wohlgefällig ist. Es kommt vom Herzen Christi selbst. Und je mehr wir es zu unserem Gebet machen, um so mehr kommen wir dahin, Christus zu kennen, dessen Wort es ist, aber auch den Vater, an den es gerichtet ist und dessen vollkommenes Abbild Jesus ist (vgl. Hebr 1, 3). Niemand hat Gott je gesehen, in Christus aber erkennen wir ihn (vgl. Joh 14, 9). So ist das Vaterunser Anbetung, inständige Bitte, Freude der Hoffnung und Vorsatz für das Leben, Gemeinschaft mit Gott.

Das zweite Gebet: Das Gegrüßet-seist-du,- Maria legt uns nicht einfach schöne Worte in den Mund, sondern die Worte des Engels Gottes an Maria. Sie sollen die unübertreffliche geistliche Schönheit - mehr im Glauben als im Fleisch - dieser Tochter Abrahams sichtbar machen: eine Schönheit, die sich ganz auf dem Gesicht Christi widerspiegelt und zugleich von ihm, dem Abbild des Vaters, abgeleitet ist. - Gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus: Das ist der Kern dieses Gebetes. Aber auch dieses Gebet bleibt nicht nur ein Gebet von uns: Es richtet sich an Maria, damit sie für uns und mit uns bete: Bitte für uns Sünder. Maria verharrte im Gebet zusammen mit den Aposteln und den Frauen - wir haben es in der Lesung gehört - in der Erwartung der Gabe des Heiligen Geistes, so wie sie jetzt für uns um alle Gnaden bittet, die wir brauchen. So kommt eine wunderbare Gemeinschaft zwischen Himmel und Erde zustande. Unser Glaube, unsere Religion - vergessen wir es nie - basiert nicht nur auf sicheren Wahrheiten, sondern besteht vielmehr in einer personalen Beziehung zu Gott und so zu allen, die von Gott und in Gott leben, angefangen mit den Engeln und Heiligen.

Das dritte Gebet: Das Ehre-sei-dem-Vater, das jedes Geheimnis des Rosenkranzes beschließt, fasst die ganze Schöpfung, die ganze Heilsgeschichte, die ganze Richtung unseres Lebens in einer einzigen trinitarischen Lobpreisung zusammen und erhebt unseren Geist zum Höhepunkt des Gebetes, das Jesus uns gelehrt hat: Ehre! Geheiligt werde dein Name!

5. Der Rosenkranz ist ein Gebet, das frei ist und frei macht. In ihm kommt es nicht auf die Höhe unserer Gedanken an. Er will das Gebet derjenigen sein, die sich bewusst sind, dass sie Gott keine großen Ideen vortragen; vielmehr verfolgt das Herz des Beters den Ton der Geheimnisse des Lebens Christi und Marias, in denen unser Leben, ja jeder Tag in unserem Leben, mit neuem Sinn erleuchtet wird. Das Herz öffnet sich und singt einen ihm inneren Gesang, und dieser Gesang des Herzens ist ohne jeden Missklang.

So hat der Rosenkranz seinen geheimnisvollen, aber wirksamen Rhythmus. Er bringt uns in Einklang mit dem Herzen Marias und lässt uns so Jesus erkennen und mit ihm den Vater. Deswegen kann er unser Leben verändern; denn jedes Gebet, das aus unserem Herzen hervorgeht und zum Herzen Gottes gelangt, verändert unser Leben.

7. Im Rosenkranz bitten wir Maria, dass sie für uns und mit uns betet. In seinem Apostolischen Schreiben über den Rosenkranz, mit dem er im vergangenen Oktober das Jahr des Rosenkranzes ausgerufen hat, lädt der Papst als Vater der Christenheit alle christlichen Eltern ein, mit den Kindern und noch mehr für die Kinder den Rosenkranz zu beten. Er ist zuversichtlich, dass die Jugendlichen - wenn sie gut in den Rosenkranz eingeführt werden - „selbst die Erwachsenen noch einmal überraschen können, indem sie sich dieses Gebet zu eigen machen und es mit dem für ihr Alter typischen Enthusiasmus vollziehen“ (Rosarium Virginis Mariae Nr. 42).

Ich übermittle mit Zuversicht diese Einladung des Heiligen Vaters, die an die Familien, aber auch an alle Verantwortlichen der Jugendpastoral gerichtet ist.

Beim Gebet des Rosenkranzes sind wir nicht allein. Es ist ein leises, aber inbrünstiges Gebet, das die Welt mit allem, was in ihr dringend nach Erlösung und Barmherzigkeit ruft, einhüllt und vor Gott stellt. Und Gott wird unser Gebet, das mit dem der Muttergottes verbunden ist, erhören.

Maria, voll der Gnade, bitte für uns Sünder