PONTIFIKALAMT DES APOSTLISCHEN NUNTIUS
ZUM JUBILÄUM DER WIESKIRCHE
(Steingaden, 10. Oktober 2004)

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Einführung:

Liebe Schwestern und Brüder in Christus!

Die Wieskirche schaut in diesem Jahr auf 250 Jahre seit ihrer Weihe zurück. Sie hat in diesen zweieinhalb Jahrhunderten als Wallfahrtskirche zum Gegeißelten Heiland immer wieder Pilger in großer Zahl angezogen. Touristen kommen und gehen – Pilger aber bleiben treu. Für sie, die 200 Fußpilgergruppen und die übrigen, die sich alljährlich auf den Weg hierher begeben, ist die Wieskirche ein Ort, von dem sie gestärkt wieder nach Hause zurückkehren.

Nachdem das Weihejubiläum der Kirche als der Höhepunkt des Jubiläumsjahres schon am vergangenen 5. September gefeiert worden ist, begeht heute, am 2. Sonntag im Oktober, die Bruderschaft zum Gegeißelten Heiland ihr Bruderschaftsfest – zwanzig Jahre nach ihrer Wiederbelebung durch den Diözesanbischof Josef Stimpfle.

Ich danke Herrn Prälat Kirchmeier als Wallfahrtsleiter für die freundliche Einladung, an diesem ’Hochfest’ der Bruderschaft während des Jubiläumsjahres hier in der Wieskirche ein Pontifikalamt zu feiern. Mein erster herzlicher Gruß am heutigen Tag gilt darum ihm und den Mitgliedern der Bruderschaft. Ich grüße Herrn Domkapitular Prälat Dr. Bertram Meier als Vertreter der Diözese Augsburg, dem ich durch seine langjährige Mitarbeit im vatikanischen Staatssekretariat eng verbunden bin; ebenso auch alle Gläubigen von nah und fern, die sich hier versammelt haben, um mit uns diesen festlichen Gottesdienst zu feiern.

Zur Zielsetzung der Bruderschaft gehört das Bemühen der Mitglieder, in ihrem Leben und Beten Christus nachzufolgen. Wir wollen uns alle zu Beginn dieser Eucharistiefeier prüfen, wo wir uns dem Ruf des Herrn in seine Nachfolge nur halbherzig öffnen oder uns ihm sogar völlig verschliessen. Wir bitten Gott um Vergebung unserer Sünden.

Predigt:

Liebe priesterliche Mitbrüder und Ordensleute, liebe Mitglieder der Bruderschaft vom Gegeißelten Heiland auf der Wies, liebe Schwestern und Brüder im Herrn!

Die Jubiläumsfeier der Weihe der Wieskirche vor 250 Jahren lenkt die Aufmerksamkeit vieler Menschen und der Medien auf diese Kirche, die wegen ihrer „Harmonie von theologischer Glaubensaussage, künstlerischer Gestaltung, Akustik und Lichtführung“, wie es in einer Beschreibung heißt, als Kleinod des Rokoko und Verkörperung des Katholizismus bayerisch-barocker Prägung gilt. Ich freue mich, durch meinen heutigen Besuch als Apostolischer Nuntius diesem wunderbaren Gotteshaus ebenfalls die ihm gebührende Würdigung und Anerkennung bekunden zu können.

1. Jubiläen haben es an sich, dass bestimmte augenfällige Seiten von dem, was Gegenstand der Feierlichkeiten ist, besonders hervorgehoben werden, während andere Aspekte, die auch wichtig sind, mehr im Hintergrund bleiben – vielleicht deshalb, weil es ihrem Wesen widerspricht, im Rampenlicht zu stehen. Dies trifft bei dem jetzigen Jubiläum wohl für die Bruderschaft vom Gegeißelten Heiland auf der Wies zu. Sie ist von ihrem Ursprung her – sie wurde am 12. Oktober 1755 feierlich gegründet – mehr nach innen orientiert. Sie ist von dem Verlangen eifriger Christen geprägt, Jesus als den Gegeißelten besonders zu verehren. In ihren Satzungen aus dem Jahre 1984 nimmt die Förderung des geistlichen Lebens einen breiten Raum ein. Die Mitglieder der Bruderschaft streben danach, ihr Leben ganz auf Gott auszurichten, seinem Ruf entschlossen zu folgen und so die verwandelnde Kraft des Heiligen Geistes in ihrem eigenen Leben zu erfahren. Sie lassen sich in ihrem Streben nach Heiligkeit in einer besonderen Weise von Christus, dem gegeißelten Herrn, begleiten und führen.

2. Wer das Geheimnis des gegeißelten und gekreuzigten Christus betend betrachtet und verehrt, dem wird es leichter fallen, sich in das Leiden der Brüder und Schwestern hineinzudenken und ihnen mit Anteilnahme zu begegnen. Was wir in der Ersten Lesung aus dem Vierten Lied vom Gottesknecht beim Propheten Jesaja gehört haben, läßt uns den Sinn des menschlichen Leidens tiefer verstehen. Jesaja stellt uns in prophetischer Vorausschau einen Mann vor Augen, der stellvertretend alles Leid und alle Schuld der Welt auf sich nimmt, der alle Bosheit an sich erfährt und sie geschehen läßt, ja, den Tod eines Verbrechers auf sich nimmt – und all das um der vielen anderen willen, die er dem Verderben entreißen und retten will.

Was dem Gottesknecht beim Propheten Jesaja widerfährt, sehen wir in Jesus Christus, dem Sohne Gottes, voll verwirklicht, den der Vater gerade dazu sendet, dass er die Menschen durch sein Leiden und Kreuz von Sünde und Tod errettet. Jesus geht im Gehorsam gegen den Vater den Weg des Gottesknechtes bis zum Tod am Kreuz und wird in seiner Auferstehung in seinem Anspruch bestätigt, der von Gott gesandte Erlöser der Menschheit zu sein. Zugleich ruft Gott durch ihn immer wieder nach Menschen, die bereit sind, in der Kraft des Heiligen Geistes in der Kirche am Werk der Erlösung seines Sohnes mitzuwirken und an seinem Leiden zu ergänzen, was diesem noch fehlt (vgl. Kol 1,24).

3. In Jesus Christus offenbart sich uns Gott von seiner menschlichen Seite, vor allem in der Gestalt des leidenden Gottesknechtes, in dem er durch seine vorbehaltlose Selbstentäußerung uns allen, auch den ärmsten, den verfolgten und verstoßenen Menschen, gleich geworden ist außer der Sünde. Christus begegnet uns ausgerechnet in dieser herrlichen Wieskirche - und das mag in der Tat überraschen! – nicht mit Gold und Edelsteinen geschmückt, sondern in der armseligen Gestalt des Schmerzensmannes, aus Holz geschnitzt, zerschunden, an die Geißelsäule gekettet. Die Pracht und den Glanz dieses einzigartigen Gotteshauses begreifen wir erst, wenn wir das Geheimnis dieses Gnadenbildes erfassen.

Vor uns steht in der Gestalt des gegeißelten Heilands das Bild des Erlösers, mit der Schuld der ganzen Welt beladen. Obwohl gebunden, scheint es, als strecke er uns einladend seine Hand entgegen. Die Pilger aller Zeiten und aller Herren Länder verstehen die Botschaft dieser Kirche mit ihrer ungewöhnlichen Statue: Vor diesen leidenden Christus kann ich meine Sorgen und mein Leid, meinen Kummer und meine Tränen tragen. Er versteht mich, denn er leidet selber, er ist einer von uns geworden. Vielleicht finden auch wir nach diesem Wallfahrtstag die Kraft und den Mut, die ausgestreckte Hand Jesu neu zu ergreifen und dann auch unsere eigene helfende Hand noch hilfsbereiter zu unseren notleidenden Brüdern und Schwestern auszustrecken.

4. In der radikalen Selbstentäußerung seines Leidens zeigt uns Christus seine vorbehaltlose Solidarität. Zugleich lädt er uns ein, im selben Geist solidarischer Verbundenheit und Mitverantwortung seine erlösende Botschaft und Hilfe an alle Menschen weiter zu vermitteln. Denn er will, dass alle Menschen gerettet werden und durch ihn das Heil erlangen. Christen haben darum zu allen Zeiten nach Wegen gesucht, die dabei hilfreich sein können. Schon früh haben nicht wenige in der Kirche eigenverantwortlich Aufgaben der Glaubensverkündigung und sozial-karitative Dienste übernommen. Sie haben sich dazu in Vereinigungen zusammengeschlossen, aus denen dann auch Ordensgemeinschaften und Bruderschaften entstanden sind.

Derselbe Ruf des Herrn zur tatkräftigen Mitsorge im Sendungauftrag der Kirche gilt auch uns heute und einem jeden von uns. Gott braucht auch heute Menschen, die sich ihm ihrer jeweiligen Berufung entsprechend ganz überantworten und ihm zur Fortsetzung seines Erlösungswerkes unter den Menschen ihre Hände und Füße, ihre Stimme und ihr Herz zur Verfügung stellen. Gott kann sich unserer Mitarbeit jedoch nur dann bedienen, wenn wir ihm diese von uns aus hochherzig anbieten. Von zahlreichen Heiligen sind uns Gebete bekannt, mit denen sie um die Gnade einer solchen vorbehaltlosen Hingabe an Gott und sein Erlösungswerk in der Welt gebeten haben; zum Beispiel von Niklaus von der Flüe, von Ignatius von Loyola und auch von Charles de Foucauld. Vom letzteren stammt das folgende Gebet, das auch unser persönliches Gebet werden könnte und sollte:

„Mein Vater, ich überlasse mich dir,
mach mit mir, was dir gefällt.
Was du auch mit mir tun magst, ich danke dir.
Zu allem bin ich bereit, alles nehme ich an.
Wenn nur dein Wille sich an mir erfüllt,
und an all deinen Geschöpfen,
so ersehne ich nichts weiter, mein Gott.
In deine Hände empfehle ich meinen Seele.“

5. Liebe Schwestern und Brüder, schauen wir erneut in dieses herrliche Gotteshaus. Im Zentrum des hellen Festsaales, der von dem Reichtum und der Vielfalt des Lebens nur so strotzt, steht der Schmerzensmann. Der gegeißelte Heiland der Wieskirche ruft uns in Erinnerung, dass Christus nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und um sein Leben als Lösegeld für die vielen, d.h. für alle Menschen, hinzugeben. Darin liegt die Botschaft der Wies, die den Pilgern und Besuchern mit auf den Weg gegeben wird: Wer zur Gemeinschaft Christi gehören will, darf nicht nur vom Himmel träumen, sondern muß die Niederungen dieser Erde ernst nehmen und sich in ihnen bewähren. „Wer mein Jünger sein will“, sagt Jesus, „der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach“(Mk 8,34 ). Nach den Worten und dem Beispiel Jesu kann es kein bequemes und behagliches Christentum geben. Das Evangelium ist eine große Herausforderung an uns und verlangt von uns mutige Entscheidungen. Nur wer bereit ist, sein Leben um Jesu willen zu verlieren, der kann es gewinnen (vgl. Mt 10,38). Wir sollen unser Leben wagemutig und hochherzig einsetzen im Dienste Gottes und unserer erlösungsbedürftigen Mitmenschen. Um diesen Mut lasst uns gemeinsam und füreinander bei dieser Jubiläumswallfahrt den Gegeißelten Heiland auf der Wies bitten.

Viele Besucher sagen, dass sie anders die Wieskirche verlassen, als sie hineingegangen sind. Die Seitengänge an der Apsis mit den vielen Briefen, die in unterschiedlichen Sprachen an den Gegeißelten Heiland geschrieben wurden, zeigen, dass dieses Gotteshaus gleichsam ein ’Kummerkasten’ geworden ist, wo jeder seine Sorgen und Ängste vertrauensvoll Jesus Christus vortragen kann. Christen unterschiedlicher Konfessionen, Gläubige, Zweifelnde und auch Ungläubige fühlen sich vom Gnadenbild angezogen. Sie finden Trost und Hoffnung in ihren Anliegen und werden auch neu ermutigt für ihr Leben im Alltag und für ihren Dienst an den Mitmenschen. Manche haben bei diesem Gnadenbild auch ihre Berufung entdeckt sowie den Sinn und den Auftrag ihres Leben neu erkannt. Sie spüren, worum es im Christsein letztlich geht, nämlich: Alle Türen für Christus weit zu öffnen. Christus in unser eigenes Leben Einlaß zu gewähren und seine helfende und erlösende Hand auch an unsere Mitmenschen weiterzureichen. – Amen!